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Sibylle Bergemann und das Theater RambaZamba

Das essen jetzt mal die Schauspieler! Ich lernte Sibylle Bergemann kennen, als sie sich 1997 bei uns im Theater aufhielt, um die berühmten Polaroid-Fotos der Woyzzecken"-Darstellerinnen und -Darsteller zu machen. Ich bereitete eine später sehr beachtete Medea"-Inszenierung vor und fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, auch diese Schauspielerinnen und Schauspieler zu fotografieren. Sie sagte in ihrer trockenen Art: Ja, das können wir mal machen." Im Sommer 1997 fotografierte Sibylle das erste Mal bei uns: eine Schlammsession, die wir mit den Medea-Frauen gemacht hatten. Wie sie damit umging, war exemplarisch: Wir fuhren mit den Frauen nach Rüdersdorf zu Christina Reitmayer, einer befreundeten Keramikerin und Performerin, und malten und gestalteten in ihrem Garten mit Schlamm auf unserer Haut. Der Schlamm trocknete und riss, wir froren, Sibylle arbeitete mit uns einen ganzen Tag. Am Ende nahm sie nichts. Es gab kein Bild einer archaischen Frau, bei der sich der Schlamm und das Besondere zu etwas Überzeugendem verbunden hatten. Diese Idee war nur in unseren Köpfen, die Schauspielerinnen fanden es vermutlich nur fremd. Darum fehlte so etwas wie Schönheit und Anmut. Ein ganzer Tag, keine Ausbeute. Sibylle sagte: Macht nichts." Es dauerte dann noch drei Jahre, bis sie Zeit hatte, eine Theaterproduktion zu fotografieren. Während wir Orpheus ohne Echo" auf der Bühne probten, zog sie regelrecht bei uns ein, mit vielen schweren Kameras und viel Zeit. In einen laufenden Inszenierungsprozess zu kommen und dann ständig dabei zu sein, ist eine sehr fragile Angelegenheit, vor allem, wenn man öffentliches" Inszenieren nicht liebt. Aber mit Sibylle ging es gut. Ihr Umgang mit den Schauspielerinnen und Schauspielern war voller Respekt und ganz unsentimental. Da gab es kein übertriebenes Gekuschel, eher mal den Satz: Ihr müsst nicht immer lächeln, wenn ich euch fotografiere, im Gegenteil." Die Proben beobachtete sie sehr wachsam und es zeigte sich, dass wir ähnliche Kriterien und Vorlieben hatten. Wir verstanden das, was wir da taten, nicht als karitativen Akt, sondern als Arbeit. Kompromisslos. Wir spürten den Fähigkeiten und den wahrhaftigen Momenten der Darsteller nach, liebten ihr spontanes und ehrliches Spiel und litten beide, wenn die Schauspielerinnen und Schauspielern mal nicht bei der Sache waren, nur Text ablieferten" oder eitel posierten, was allerdings selten vorkam. Sibylle sah die besonderen Momente bei ihnen manchmal, bevor sie spielten, wenn sie innehielten, sich sammelten und natürlich in Momenten intensivsten Spiels. Dabei interessierte sie weniger der schauspielerische Vorgang oder die Szene an sich, sondern der einzelne Ausdruck, bei dem ein Schauspieler bei sich war und zugleich Teil einer bildhaften Erzählung wurde. Es entstanden Fotos wie gemalte Bilder. Sibylle kam über Wochen fast täglich. Dieser Aufwand war bedingt durch die Flüchtigkeit des Spiels. Einzelne Szenen kamen manchmal erst nach Wochen wieder dran. Aber wehe, wenn die Schauspieler schlampig angezogen oder privat auf der Bühne waren, wenn sie fotografieren wollte. Es kam einige Male vor, dass sie nach zwei Stunden abbrach und einmal sogar gleich wieder ging, weil ein Schauspieler wieder kein Probenkostüm trug, sondern in seinem weißen Unterhemd probte, übrigens immer derselbe. Wir hatten immer zu wenig Personal, da kam das vor. Aber Sibylle war wütend, es machte alle Fotos unbrauchbar. Es war immer ein spannender Moment, wenn Sibylle die Fotos dann zeigte: spät, kritisch, selten mit sich zufrieden. Aber wir entdeckten so viel: Gesichter, Figuren, Konstellationen, die wir nie zuvor gesehen hatten. Wir entdeckten die Schauspieler neu in ihrer Schönheit und Würde. Wir entdeckten die schönen leeren Stellen auf der Bühne, die weggedrehte Gestalt, die Unschärfe. Zwischendurch machte sie auch Extrasessions mit den Frauen und holte sich immer unsere Kostüm- und Maskenbildnerin Beatrix Brandler dazu, die mit ihrer Arbeit die Schauspieler, besonders die Frauen, in ihrer Schönheit und Einzigartigkeit unterstrich, ohne die Behinderung wegzuschminken. Sie beobachtete die Schauspielerinnen und Schauspieler vor, während und nach den Proben und auf vielen Gastspielen. Wenn es ihre Zeit ermöglichte, war Sibylle mit unterwegs, z. B. in Mainz, Trier, Paris und Rüdersdorf. Sie war ganz einfach gern dabei, liebte uns und machte so nebenher unzählige Fotos. Zu unserem Gastspiel in Versailles fällt mir noch eine wichtige Episode ein: Wir hatten Mongopolis" zur Eröffnung eines Festivals gespielt, das von der französischen Sozialbank finanziert wurde. Deren Vertreter waren also auch da und hatten anschließend einen Empfang. Wir glaubten, dort ebenfalls willkommen zu sein, was aber nicht der Fall war. Die Kellner ließen sofort die Champagnerflaschen verschwinden und räumten die Platten weg. Sibylle war außer sich. Sie ging zum Kellner, riss ihm die Platte aus der Hand und sagte ihm, dass das unerhört sei und dass die Spieler das jetzt essen würden. Er ließ sie gewähren, aber währenddessen hatten die anderen schon abgeräumt. Sibylle war wie eine Löwin vor die Truppe gesprungen. In Trier spielten wir Orpheus" in den alten römischen Thermen. Es war ein tolles Projekt und eine enorme Herausforderung. Eine Woche Proben in allen Räumen der Therme. Das Publikum musste wandern. Sibylle war dabei, und sie schlief auch da, wo wir waren. Wir schliefen im Kolpinghaus, einem schrecklichen riesigen Haus mit vier bis sechs Betten pro Zimmer und Gemeinschaftsdusche. Das machte ihr nichts aus. Morgens trafen wir uns auf dem Gang im seidenen Morgenrock und suchten die Dusche, und sie war glücklich, so nah an den Mädchen zu sein. Die Fotos habe ich allerdings nie gesehen. Sibylle war keine Diva und wollte nie Extra-Bedingungen. Dadurch war sie auf sehr natürliche und doch besondere Weise Teil unserer Gruppe. Sibylle fotografierte dann alle weiteren Stücke: Mongopolis", was ihr sehr am Herzen lag, Alice auf Kaninchenjagd", Alice in den Fluchten". Nur das Fußballstück ließ sie aus, weil es ihr schlecht ging. Wann immer wir sie trafen oder besuchten, erkundigte sie sich nach allen und hoffte, dass wir sie in Gransee mit der Gruppe besuchen kommen. Leider kam es dazu nicht mehr. Gisela Höhne, Leiterin Theater RambaZamba.
EAN: 9783942449458
Sprache: Deutsch
Seitenzahl: 77
Produktart: kartoniert, broschiert
Herausgeber: Walter, Jonas L. Wild, Frieda von
Verlag: Verlag Theater der Zeit
Veröffentlichungsdatum: 17.01.2012
Untertitel: Fotografien. Zur Ausstellung im Willy-Brandt-Haus, Berlin 2011/2012
Schlagworte: Behinderung / Behinderte (Motiv in der Fotografie) Bergemann, Sibylle Berlin; Kultur Fotograf / Fotografin (Einzelne Personen) Schauspieler (Motiv)
Größe: 230 × 220 × 6
Gewicht: 310 g